DIALOGEzwischenAUGENBLICKEN
copyright jochen
k.gerberding 2004
"SZENEN ANGST" 1
ich habe das gefühl
den gedanken
die absicht
eine möglichkeit
ins auge zu fassen
in die hand zu nehmen
um mich zu verstehen
zu erklären
zu verändern
zu verwirklichen
um endlich meine
Unsicherheit
mein zögern
meine angst
zu verschütten
zu bekämpfen
zu besiegen.
es gibt tage da
lebe ich nur in kurzen episoden
...nun stell' dir doch mal vor, wer du wohl
wärest,
wenn du deinen Scheitel auf der anderen seite
trügest und auch anders hießest!
lust lebendig
begraben zu sein
Sehnsucht nach
wärme in mir
angstlos vor
nervosität
stille als gespräch
ruhe im kopf
tagsüber habe ich das gefühl verloren kopf und körper verbinden zu können...
Legt die Krücken auf den Boden, tanzt,
werft die falschen Gebisse über die Schulter,
flucht, trennt die Sorgen aus den Gesichtsfalten,
lacht, amputiert die Hoffnungslosigkeit,
...spuckt, spuckt gegen die Angst!
MIR MEINER PERSON
/ MEINER AUSDRUCKSMÖGLICHKEITEN BEWUSST WERDEN / BEWUSSTSEIN FÜR
MEINE WIRKUNGEN / DIESE ZIELGERICHTET EINSETZEN / DANN WIE SELBSTVERSTÄNDLICH
LOSLASSEN / UND ROLLE SEIN / NICHT ROLLE SPIELEN / SONDERN SICH DARÜBER
IM KLAREN / WAS MIR PERSÖNLICH GESCHEHEN MÜSSTE UM ROLLENANFORDERUNGEN
EINZULÖSEN / WAS IST MIR WANN WIE PASSIERT? / MUSS IN MICH HINEINHORCHEN
/ WAHRNEHMEN / GRÜNDE WISSEN / MICH ANNEHMEN! / THEATER SPIELEN HEISST
AUCH SICH LIEBEN / UND WENN ICH MICH LIEBEN KANN / KANN ICH
AUCH ANDERE LIEBEN / AN MICH HERANLASSEN / MEIN PUBLIKUM / UND OFFEN SEIN
FÜR KRITIK / POSITIVE / FÜR NÄHE / AUF BRETTERN / DIE DIE
WELT BEDEUTEN KÖNNEN / HIER IST ALLES MÖGLICH / HIER KANN ICH
ALLES TUN / ALLES SEIN / AUSPROBIEREN / JEDEN TRAUM / OHNE KONSEQUENZEN
/ ANGSTFREI –
................ Wir wollen keine Kinderzimmer, Kindergärten oder Schulen, die uns keine Freiräume mehr lassen – wir wollen keine eigene Welt.
................. Wir wollen an die Hände genommen werden. Ihr solltet uns die Welt zeigen, wie sie ist.
................ Aber ihr wart mit eurer eigenen Welt beschäftigt, mit Ratenzahlungen, Häuserbau, Autos oder Schönheitsoperationen und habt selbst die Wirklichkeit vergessen.
................. Aber du hast dich durchgekämpft durch deine Kindheit, deine Jugend, durch Enge, und Einsamkeit. Und dann stehst du plötzlich da, deine Faust himmelwärts und du willst dein Leben in die Hand nehmen, du glaubst deine Zukunft in den Händen zu haben.
................. Die Sonne scheint dir in die Augen, alles brennt in dir, wartet auf die Freude, auf die Lust endlich losgelassen worden zu sein, endlich wirklich das zu tun, was du wirklich willst. Und dann ...
................. Und dann läufst du los, läufst in Leere, gegen Wände, ins Vakuum, oder glaubst im Treibsand zu versinken.
................. Und über dir diese verdammte Sonne, die alles zu verbrennen scheint. Sie scheint heute, scheint morgen, sie hat geschienen, als ich laufen lernte, als ich geboren wurde, als meine Eltern miteinander schliefen.
................. Sie hat geschienen über Sarajevo, über Beirut, über Vietnam, über Hiroshima, als die A-Bombe fiel.
................. Sie hat geschienen, als Hitler die Juden vergasen ließ, als die Soldaten des Ersten Weltkriegs in den Schützengräben krepierten. Sie schien, als Jesus ans Kreuz geschlagen wurde.
................. Und sie hat sich nicht verändert, ihre Strahlen haben nichts verändert, konnten nichts verändern.
................. Sie hat geschienen auf Mörder, auf Vergewaltiger, auf Diebe und Betrüger, auf Lügner, Folterer und Volksverführer.
................. Warum macht sie keinen Unterschied? Warum verdunkelt sich nicht der Horizont, warum fallen nicht Blitze vom Himmel, oder stürzen Fluten aus den Wolken?
.................
Wo ist die Moral? Wo ist die Wahrheit? Wo die Gerechtigkeit? Wo ist Gott?
................. Über Erinnerungen willst du reden?
................. Warum nicht
................. Erinnerungen sind Leichen
................. Aus Staub und Asche entsteht Leben
................. Kirchgänger?
................. Ach, fick dich. Es gibt mehr als ein göttliches Prinzip!
................. Wir könnten über unsere wichtigsten Erinnerungen reden?
................. Erinnerungen? Was soll das denn?
................. Warum nicht? Haste mal drüber nachgedacht?
................. Und was bringt das?
................. Vielleicht lernst du was über dich!
.................
Meine erste Erinnerung? Meine Mutter sitzt auf einem braunen Sessel in
einer Ecke unseres Wohnzimmers, den Kopf in den Händen und weint.
Mein Vater steht vor und redet auf sie ein – irgendwie kalt. Mich beachtet
keiner. Ich muss 1 ½ Jahre alt gewesen sein
................. Mein Vater geht: es war meine schlimmste Befürchtung als Kind. Und ich seh ihn noch, verzweifelt mit Tränen in den Augen im Flur stehen, meine kleine Schwester klammert sich an sein Bein und weint. Ich steh wie angewurzelt, meine Mutter hinter mir keifend
................. Ich liege im Bett – allein, es ist dunkel, spät, sehr spät. Ich warte auf meine Mutter. Kann nicht schlafen, konnte nie schlafen, wenn sie nicht da war. Dann höre ich sie, höre sie am Klang ihrer Schritte, dass sie unsere Straße hinuntergeht. Schöner den Klang ihrer Absätze zu hören, als ihre Berührungen zu spüren
................. Hatte nur einen Moment von Ausgelassenheit, von wirklicher kindlicher Fröhlichkeit, als mich ein Freund meiner Mutter, wer weiß welcher, in die Luft warf. Ich muss schon fast 10 gewesen sein, als ich mich das erste Mal als Kind fühlen durfte
................. Heute noch überkommt mich ein Gefühl meiner Kindheit, das Gefühl von ungeheurer Einsamkeit, wenn ich das Schreien der Krähen höre auf ihrem Weg über die Stadt zu den im Park gelegenen Schlafbäumen
................. Ich kam aus den Ferien zurück, schaute in den Spiegel, sah mich und eine tiefe Trauer rührte mich zu Tränen
................. Als mein Vater starb, nur eine Idee von ihm, nicht eine zärtliche Berührung seinerseits
................. Meine Großmutter war meine wahre Mutter. Meine Eltern blieben schemenhaft in ihren Posen oberflächlichen Scheins
................. Eine Freundin sagte: Ich glaube, du kannst dich über nichts wirklich freuen. Den Abend weinte ich wie ein Schlosshund. Es war egal worüber, aber ich hatte zum ersten Mal das Gefühl von Befreiung und Losgelassensein
................. Mein älterer Bruder versuchte mich häufig spielerisch mit einem Kissen zu ersticken. Verzweiflung und Ausgeliefertsein – meine Eltern griffen nie ein, trotz meiner Todesängste
................. Mein Vater schlug mich, weil er meinte, ich hätte gestohlen. Meine Beteuerungen waren nichts, aber auch gar nichts wert. Er glaubte mir nicht. Seit diesem Tag bin ich Gerechtigkeitsfanatiker, aber ich hab ihn danach beklaut, wo ich konnte
................. Warum sprach sie nicht, wenn meine Mutter etwas von mir wollte? Warum saß sie immer nur da und erwartete von mir. War ich es nicht wert, dass man mit mir ernsthaft redete?
.................
Mein Vater hätte mich nur einmal bitten brauchen zu ihm zu kommen,
aber er war zu stolz oder zu verbittert. Und so starb er allein und ich
konnte mich nie von ihm oder von meiner Kindheit verabschieden. Auch darum
hatte er mich betrogen
Leon
Sonnenstrahlen fallen
auf den Boden. Es scheint Tag zu sein.
Marie
Dein Lächeln
macht nervös, entsetzlich nervös
Leon
Warum sollte ich
nicht lächeln, wenn die Sonne scheint
Marie
Es ist nicht unsere
Sonne, Leon , es ist um Gotteswillen nicht unsere Sonne... es ist das Tageslicht
unserer Mörder
Leon
In der Sonne sollten
wir tanzen, tanzen bis in den Tod, tanzen bis unsere Füße bluten.
Jesus blutete in den Händen...
Marie
Jesus? Das ist nicht
unser Gott. Jesus ist der Gott dieser Mörder, die in diesem Land die
Macht in Händen halten, in Händen, die Krallen ähneln
Leon
Hast du das Grün
der Bäume gesehen als wir durch das Wäldchen gefahren sind. Ein
so leichtes Grün, wie dein Kleid, das du letzten Sommer getragen hast.
Ich hab mich gefragt, wenn ich ein Maler wäre, wie einer dieser französischen
Maler, ich weiß nicht, wie sie heißen, wie... könnte ich
...dieses Grün malen, diese Farbe ....finden
Marie
Leon, ich denke,
du solltest ein wenig schlafen. Erschöpft wirkst du.
Leon
Schlafen? Ich weiß
noch nicht einmal, ob ich jetzt wach bin, ob dieser Wahnsinn, in
dem ich leben muß, überhaupt einen Platz in der Wirklichkeit
hat
Marie
Wir müssen
nicht in ihm leben, wir könnten ihm entfliehen... ihm ein Ende setzen
Leon
Selbstmord?
Marie (zögerlich,
ein Ja meinend)
Nein....
Leon
Gut, denn ich mag
nicht an Selbstmord denken, würde Gott uns vergeben
Marie
Ich frage mich,
ob ich Gott vergeben kann. Wie kann er all dieses Unrecht zulassen, all
diese Unmenschlichkeiten
Leon
Es gibt keine Unmenschlichkeiten!
Dadurch daß, es passiert, dass es tatsächlich geschieht, ist
es menschlich. Marie, vielleicht ist es doch besser, vielleicht sollten
diesem ein Ende setzen, ich fühle soviel Trauer in mir, soviel Müdigkeit
Marie
Aber wir sind noch
so jung, was haben wir schon erlebt
Leon
Reicht es nicht,
was wir erlebt haben. Wie alt muß man denn sein, um das Recht zu
haben Leiden nicht länger ertragen zu wollen, oder unbändige
Rache in sich zu spüren
Marie
Die beste Rache
ist es, wenn du überlebst, wenn du ihnen zeigst wieviel Leben in dir
ist.
Leon
Marie, was können
wir denn anderes tun, als zu überleben
Marie
Was für ein
Gedanke, Rache zu üben, nur indem man lebt, indem man ihnen zeigt,
daß man atmet, daß unser Herz noch schlägt
Leon
Weißt du was
mir Angst macht... ich hab sowenig Haß in ihren Augen gesehen, sie
töten so automatisch, so gefühllos. Ich glaube, ich könnte
leichter sterben, wenn sie mich hassen würden, wenn ich ihren Haß
sehen könnte, obwohl ich nicht weiß, was wir ihnen angetan haben
sollen
Marie
Ich glaube, sie
wissen selbst nicht warum. Sie tun es, weil es einer befohlen hat, oder
weil sie glauben wollen, es hat einer befohlen
Leon
Es sind schon merkwürdige
Menschen wir Deutschen. Wenn ich an unsere Komponisten denke, an
unsere Schriftsteller, soviel Feingefühl, soviel Weitsicht und dann
diese unfaßbare Brutalität und Gleichgültigkeit. Es kommt
mir vor, als würde ein Volk für den Verlust seiner Träume
an der ganzen Menschheit Vergeltung üben...
Marie
...und in diesem
Teufel ihren letzten Retter sehen
Leon
Wann nur werden
sie aufwachen
Marie
Wenn es zu spät
ist, Leon, wenn es zu spät ist.
"1. Buch Joel:
„Hört, ihr Ältesten
Horcht alle auf, ihr Bewohner
des Landes!
Ist so etwas jemals geschehen
In euren Tagen oder in den
Tagen eurer Väter?
Erzählt euren Kindern
davon
Und eure Kinder sollen es ihren
Kindern erzählen
Und deren Kinder dem folgenden
Geschlecht.“
2. Buchenwald, Neuengamme, Ravensbrück, Sachsenhausen, Dachau, Stutthof, Großrosen, Theresienstadt, Mittelbau, Vught, Natzweiler, Mauthausen, Flossenbürg, Bergen-Belsen
3. „Die Welt ist viel zu gefährlich,
um darin zu leben –
nicht wegen der Menschen,
die Böses tun,
sondern wegen der Menschen,
die daneben stehen und
sie gewähren lassen,“
Albert Einstein
4. Majdanek 235 000
Sobibor 250 000
Chelmo 320 000
Belzec 600 000
Treblinka 900 000
Auschwitz-Birkenau über
1 100 000
... Opfer des rechten Terrors
im Dritten Reich.
5. Und es sterben wieder Menschen,
hier und heute,
Männer, Frauen, Kinder,
Väter, Mütter, Töchter,
Söhne
Nur aus einem einzigen Grund,
weil sie anders sind!
Die Täter haben nichts
gelernt, wollen nichts lernen ...
„Die Qual der Afrikaner ist
nicht schwarz,
der Schmerz der Asiaten nicht
gelb,
der Hunger der Indianer nicht
rot.
Sie lachen und weinen wie du.
Ihre Angst kennt nur einen
SCHREI,
leise oder laut,
in tausend Sprachen.“
Und die Unschuld ist nicht
weiß!
6. Und es leiden und sterben
wieder Menschen:
Hünxe, Hoyerswerda, Mölln,
Guben, Rostock ....
7. Sag`s weiter,
Sag´s den Eltern,
Sag`s den Kindern,
es reicht nicht aus
zu warten, bis es brennt,
um Feuer zu schreien.
Sag`s weiter,
Sag`s Brüdern,
Sag`s Schwestern,
Es ist falsch,
Am Tag nach dem Feuer
zu schweigen,
Die Brandstifter trauen sich
Hervor aus den Verstecken;
Schreit jetzt.
Sag`s weiter,
Sag`s Freunden,
Sag`s Geliebten,
Es reicht nicht aus zu warten,
Bis es wieder brennt."